Von wegen Zensur

In der heutigen Ausgabe der Zeit war auf dem Titelblatt zu lesen „Kinder, das sind keine Neger!“ Titelthema war das Umschreiben von Kinderbüchern nach heute weitgehend akzeptieren Regeln einer nicht-verletzenden Sprache. Im Dossier der Wochenzeitung konnte man dann drei Artikel und ein Interview lesen − oder vielmehr bestaunen. Denn trotz einiger kritischer Worte Ijoma Mangolds war der Tenor recht deutlich; polemisch zugespitzt könnte man die dort vertretende Meinung unter „Wir lassen uns unseren ‚Neger‘ nicht verbieten!“ zusammenfassen. Von Zensur war die Rede, von political correctness.

Zur Sachlage: Einige deutsche Kinderbuchverlage haben bereits vor Jahrzehnten angefangen, an den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) herumzubasteln. Andere beginnen nun langsam. Einerseits sollen so als verletzend empfundene Stereotype getilgt und heute Rassismus offenbarende Begriffe ersetzt werden. Andererseits will man auch Handlungen oder Wörter, die heute nicht mehr aktuell sind und nicht mehr verstanden werden, modifizieren. So sollen die Verkaufszahlen von Büchern wie Pippi Langstrumpf, Nils Holgersson, Die Unendliche Geschichte oder Jim Knopf hochgehalten werden. Natürlich kann man da nicht mehr von einem irgendwie autorintendierten Text ausgehen. Oder zusammengefasst: Die Texte werden zum einen aus ideologischen, zum anderen aus ökonomischen Gründen abgeändert. Aus editionswissenschaftlicher Sicht verböte sich natürlich beides, doch hier geht es um Leseausgaben für Kinder. Die Bücher sollen nicht einigen Wissenschaftlern zur Benutzung dienen, sondern vielen Kindern Freude und Anregung zur Kreativität und zur Erkundung der Welt bieten. Vielleicht muss also das Postulat, einen historisch existenten Text herstellen zu wollen, fallen.

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Reproduktion von Rassismen?

Trotzdem ist es gerade diese Erkundung der Welt, welche es schwierig macht, Begriffe wie „Neger“ im Text stehen zu lassen. Der Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten sagt im Interview: „[Gegen Ende des vierten Lebensjahres] entdeckt das Kind, dass es eine eigene Innenwelt hat, die sich von der Innenwelt anderer und von der Außenwelt unterschiedet. In dieser Zeit entsteht eine Vorläuferform es Gewissens: ein Gefühl für Gut und Böse. Wenn die Eltern in dieser Phase Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz und Offenheit vorleben, ist sehr viel gewonnen. Sind die Eltern vorurteilsbeladen, wird sich auch das übertragen.“

Trotzdem ist Kasten offenbar Gegner von Texteingriffen in den Leseausgaben der Kinderbücher, denn: „In diesem Alter, denke ich, können Kinder auch nachvollziehen, dass das Wort ‚Neger‘ früher etwas anderes bedeutete als heute.“ Und da liegt genau das erste Problem: Die Bedeutung des Wortes hat sich nicht geändert, sondern die Interpretation der gesellschaftlichen Umstände, unter denen es benutzt wird. Wenn wir heute „Neger“ sagen, dann verweisen wir damit nicht nur auf ein Herrschaftsgefühl hellhäutiger Menschen, sondern auch auf die Rassentheorie und die Annahme einer „negriden Rasse“. Wir verweisen auf ästhetische Vorstellungen, Simplizität und „Natürlichkeit“, vielleicht auch auf die irrige Idee des „edlen Wilden“ oder den eurozentristischen Blick auf Kannibalismus. Das war der Rahmen, in dem der Begriff „Neger“ schon immer verwendet wurde − an diesen Konnotationen hat sich bis heute nichts geändert.

Hartmut Kasten sagt es selbst: „Kinder richten ihre Aufmerksamkeit auf alles, was sie nicht kennen.“ Und es ist sicher nicht allen Eltern zuzutrauen, ihren Kindern die komplexen Konnotationen des vielleicht unbekannten Worts „Neger“ zu erklären, denn dazu braucht man ein solches Weltwissen, das Kindern nicht abverlangt werden kann. Gerade wenn der Begriff „Neger“ für das Kind noch keine Bedeutungsebene trägt, dann ist es wichtig, wie er gefüllt wird. Wie ist es beispielsweise in der Kleinen Hexe von Ottfried Preußler, in der sich Kinder „als Neger und Türken“ verkleiden? Auch dieses Buch wird in der Zeit erwähnt, die Szenerie als harmlos bewertet. Doch kann das Verlachen von Andersartigkeit − dazu noch körperlicher − harmlos sein? Freilich: Es gibt Unterschiede in der Intensität, aber ein bestimmtes Bild wird den Kindern durch den Text trotzdem vermittelt.

Und wie steht es um die rassistischen Stereotype, wie sie gerade in Bildern reproduziert werden. Auch Bücher wie Mecki bei den Negerlein entstammen nicht dem 19. Jahrhundert, sondern sind nach den Erfahrungen des Faschismus in Europa produziert und mehrfach aufgelegt worden.

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Natürlich landet der weiße Mann im Kochtopf…

Gleiches gilt auch für Comics. Besonders bei dem auch bei jüngerem Publikum beliebten Walt Disney finden sich zahlreiche Stereotypen, nicht nur was Aussehen, sondern auch was Verhalten und Sprache angeht. Dabei werden stets die gleichen Klischees wiederholt, dem Diskurs entnommen und wieder in ihn eingebracht. Auch hier fand in vielen Bereichen eine Überarbeitung statt und in neuesten Ausgaben wurden zumindest Sprach- und Handlungsstereotype verringert.

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Rassismen bei Disney-Zeichner Carl Barks

Kinderbücher beeinflussen Kinder gerade weil sich Kinder die Welt noch in vielen Aspekten nicht erschlossen haben und die KJL ihnen dabei Anhaltspunkte gibt. Diese können gesellschaftliche Gegebenheiten hinterfragen, soziale Ungerechtigkeiten und Hierarchien thematisieren. Sie können aber auch schlicht affirmativ sein − wie in den obigen Beispielen. Dass die Kinder- und Jugendliteratur einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Kinder in ihrem Verhältnis zu gesellschaftlichen Zuständen haben kann, war schon früh bekannt. Nicht nur im 18. und 19. Jahrhundert, sondern auch im Kaiserreich wurde versucht, die Kinder durch Literatur auf die „richtige Linie“ zu bringen. Der Struwwelpeter ist eines der Werke schwarzer Pädagogik, die in Erinnerung geblieben sind. Hier verbrennen und verhungern Kinder, es wird verstümmelt und getötet. In dieser mit einprägsamen Reimen und drastischen Zeichnungen unterlegten Weise würde heute wohl kaum noch jemand seine Kinder erziehen wollen. Das Buch hält sich heute eher als Liebhaberstück und aufgrund der − im Gegensatz zu vielen anderen Werken jener Zeit − hohen literarischen Qualität. Als Buch für Kindergartenkinder taugt es freilich den gesellschaftlichen Idealen nach nicht mehr.

Und wie ist es mit anderen der KJL zur Zeit des Nationalsozialismus? Zum Beispiel jene Werke wie Ernst Hiemers Der Giftpilz. Nur einige Ewiggestrige würden vielleicht solche Bücher noch immer ihren Kindern geben. Die zum Glück sehr breite Mehrheit würde aber nicht im Traum darauf kommen, sie ihren Kleinkindern vorzulesen und diese die Bilder anschauen zu lassen. Dabei ist es im Bereich der bildlichen Darstellung nur ein gradueller Unterschied von Hiemer und Disney, die diskriminatorische und difamierende Praxis bleibt kategorial identisch. Nur ist es bei Büchern wie Der Giftpilz einziges Ziel, diese Stereotypen zu näheren und zu mehren, während sich die Diskurse bei Disney vermutlich weniger intentional einschreiben.

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Vorderdeckel und Illustration des Giftpilzes

Natürlich wurden nach der Lektüre dieses Machwerks nicht alle Kinder augenblicklich zu überzeugten Antisemiten. Dafür waren sicher mehrere Räder in der Sozialisationsmaschine notwendig. So wäre es auch heute nicht, schon gar nicht durch das Lesen Pippi Langstrumpfs oder Jim Knopfs. Doch ebenso unsinnig ist der Versuch Ulrich Greiners, die Kritik an Wortwahl und Reproduktion von Vorurteilen ad absurdum zu führen: Natürlich wird nicht aus jedem Lindgren-Leser ein Nazi-Skinhead. Doch der latente Rassismus in der Gesellschaft wird weiter unterfüttert. Die gesamtgesellschaftlich verankerten Denkweisen sind noch immer von rassistischen und antisemitischen Ideen geprägt: Die vermeintliche Kulturlosigkeit Afrikas, der Reichtum jüdischer Familien und die Hintertriebenheit Bewohner arabischer Länder sind beispielsweise fest im Denken der meisten Deutschen verwurzelt. Zwar wird oft betont, dass diese angenommene Wesensart oder Eigenschaft zwar nicht für alle Menschen der wie auch immer konstruierten Gruppe gelte, doch „die meisten“ sind es dann angeblich doch. Weiterführend sei hier auch verwiesen auf Rassismus in Gesellschaft und Sprache.

Insgesamt kann nur gesagt werden: Kinder bilden sich und ihre Welt vor allem durch Wahrnehmung und Sprache. Und die bekommen sie auch aus Büchern. Wenn wir weiter Bücher vorlesen wollen, weil uns die Geschichten gefallen, die aber aus einer Zeit stammen, in der andere moralische Werte und andere Menschenbilder vertreten wurden, müssen wir uns überlegen, wie wir damit umgehen − sofern wir unser eigenes Menschenbild und unsere Moral für angebracht halten. Eine ewige Reproduktion der Ideen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann keine Lösung sein. Aber diese Reproduktion liegt im Wort, in der Sprache, in der Kommunikation. Was bei einer Textausgabe zu Forschungszwecken nicht sein darf und auch in der Erwachsenenliteratur, wo die zeitliche und damit gesellschaftspolitische Einordnung von den Rezipienten besser vorgenommen werden kann, nicht vorkommen muss, kann in der Kinderliteratur geboten sein: Eingriffe in die ursprüngliche Form von Text und Bild. Damit sind die Rassismen reproduzierenden Texte nicht zensiert und nicht verschwunden, aber sie sind nicht mehr explizit für Kinder gedacht in jeder Buchhandlung zu kaufen.

6 Gedanken zu „Von wegen Zensur

  1. Du hast es mit diesem Text tatsächlich geschafft, mich neu über dieses Thema nachdenken zu lassen. Denn erst vorgestern habe ich noch zu jemandem gesagt, ich hielte dieses Umschreiben für einen Auswuchs des Anspruchs, alles zu beseitigen, was irgendjemandem in irgendeiner Weise weh tun könnte. Ich finde noch immer, dass Kommunikation darüber stattfinden kann, in der Schule, mit den Eltern, – notwendige Kommunikation!, die man nicht einfach ignorieren sollte. Freilich gibt es Eltern die mit ihren Kindern nicht über das Gelesene sprechen und wo keine Reflektion darüber stattfindet, was diese schwierigen Worte bedeuten. Ich bin mir zwar immernoch nicht ganz im Klaren darüber, welche Haltung ich nun dem gegenüber habe, ich kann – besonders nach deinem Text – beide Seiten verstehen -, aber ich bin der Bildung eines Urteils nun dank dir ein bisschen näher.

    • Grundsätzlich sei nochmal gesagt, dass ich nicht zu den Leuten gehöre, die der Meinung sind, dass man alles Schlimme, alles Böse, alles Ablehnungswürdige von Kindern fernhalten solle. Aber ich bin von der suggestiven Macht literarischer Texte – besonders in Kombination mit Bildern – überzeugt. Durch soetwas wird un- oder unterbewusst geprägt. Und eine abstrakte, komplexe Erklärung, die notwendig wäre, um einen Begriff zu dekonstruieren, ist bei einem Kindergarten- oder Grundschulkind sicher nicht immer angemessen und wir auch nur selten auf Verständnis treffen. Natürlich kann man Rassismus (im Gegensatz zum Antisemitismus) auch schon sehr früh thematisieren, dann aber m.E. lieber kindgerecht ohne irgendeinen Exotismus oder Beispiele, die man dann anschließend im Kommentar widerlegen muss, statt dass sie für sich selbst sprechen. Wie gesagt: Das ist alles graduell und ich finde es wirklich weniger schlimm, dass Pippi „Negerprinzessin“ genannt wird, als die Rassismen, die sich z.B. bei Mecki finden. Entscheidend ist m.E. die Kontextualisierung im Text und dann, anschließend die Kontextualisierung im Eltern- oder Lehrerkommentar!

  2. Ich denke der Text und die Kommentare tragen sehr zur Versachlichung der Diskussion bei. Und diese halte ich für außerordentlich wichtig. Deshalb würde ich diesen Artikel gerne Rebloggen. Darf ich das?

  3. Lieber ramagens,

    ich bin mir bewußt, dass es umständlich klingt, aber ich finde es einfach höflicher zu fragen. Dann kann man wenigsten auch ‚danke‘ sagen.
    gruss mick

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