Was ich schreiben werde, ist sicher schon oft geschrieben worden, aber das ist ja in einem Blog weniger problematisch. Schon viele haben sich damit auseinandergesetzt und sind zu ähnlichen, anderen oder gegenteiligen Positionen gekommen. Ein kleiner Beitrag zur Debatte mag mir trotzdem erlaubt sein. Es geht um die Einbindung mittelhochdeutscher Texte im Schulunterricht. Sollen sie behandelt werden und wenn ja, wie?
Es ist offenkundig, dass die (deutsche) Literaturgeschichte nicht erst mit dem Barock beginnt, wieso also erst im 17. Jahrhundert beginnen? Doch die Jahrhunderte davor, in denen bereits in deutscher Sprache geschrieben und gedichtet wurde, sind aus der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend verschwunden. Zu fremd wirken die Wörter, zu fremd wirkt die ganze Zeit, die in ihnen mitklingt. Dazu kommt eine seit Ende des zweiten Weltkriegs vermehrt durchgesetzte weitestgehend willkürliche Trennung der Germanistik in die neuere und die ältere Literatur. Das wirkt sich natürlich sowohl auf die Lehramtsausbildung als auch auf die Gestaltung des Schulunterrichts aus. Und so verschwanden im Laufe der Jahrzehnte der Unterrichtspläne der Bundesrepublik auch sukzessive Versepen und Heldensagen, bis zum heutigen Tage, an dem nur noch − wenn überhaupt − wenige Gedichte aus dem Hochmittelalter in der Schule gelesen werden.
Dabei ist es ja gerade Aufgabe des literarischen Deutschunterrichts, ein kulturelles Erbe zu konservieren und zu tradieren. Und das ist keineswegs ein Selbstzweck: So können bereits Schüler nicht nur für sprachliche, sondern auch für historische und geistesgeschichtliche Entwicklungen sensibilisiert werden. Es bleibt auch nach wie vor zu hoffen, dass die noch immer verfestigte Vorstellung des „finsteren Mittelalters“, wie sie sich in der auf Licht bedachten Aufklärung herausgebildet hat, die eine Kulturlosigkeit und Barbarei in dieser Zeit von etwa 600-1500 impliziert, bald der Vergangenheit angehören möge. Denn selbstverständlich war das europäische Mittelalter reich an Kultur und Literatur − und das keineswegs nur an geistlicher.
Blatt der Handschrift C des Nibelungenliedes
Die größte Eingangshürde stellt dabei das wortwörtliche Verständnis der Texte dar, doch es sei immer beachtet: Es handelt sich hier nur um eine Sprachstufe des Deutschen, nicht um eine Fremdsprache. Wenn Schüler Spanisch, Englisch, Französisch, Latein, Griechisch, Italienisch, an manchen Schulen sogar Russisch, Japanisch oder Chinesisch bis zu einem gewissen Niveau lernen können, scheint es für sie auch zumutbar, unter entsprechender Anleitung alte deutschsprachige Texte zu lesen. Und so fremd ist diese Sprache gar nicht, besonders wenn man weiß, wie sie ausgesprochen wird. Doch auf den ersten Blick wirkt sie auf viele abschreckend. Ein Beispiel:
So chumet Christ der riche vil gewaltichlichen,
der e tougen in die werlt quam: da sihet in wip unde man.
im ist sin scare vil breit, wa er die versmacheit leit
von sinen vianden, da wil er iz anden.
(Frau Ava: Das jüngste Gericht, V. 178ff.; hrsg. von Maurer 1966)
Doch damit dieser erste Eindruck nicht dazu führt, dass ein Leser das Buch gleich wieder zuschlägt, gibt es auch normalisierte Texte. Selbstverständlich ist die Normalisierung von Texten nicht unkritisch zu sehen. Doch kann eine solch komplizierte Thematik wie die (mediävistische) Editionsphilologie nicht hinreichend in der Schule behandelt werden und für den Schulunterricht können solche vereinheitlichenden Texteingriffe wichtige Dienste leisten. Dies alles unter der Voraussetzung, dass gleichzeitig thematisiert wird, dass so, wie der Text nun vorliegt, nicht tatsächlich geschrieben wurde, sondern dass er das Werk eines (hoffentlich wissenschaftlich ausgebildeten) Editors ist. Normalisierende Texte lassen sich also insgesamt auf einer ersten Ebene leichter lesen, wie hier z.B. eine Strophe von Heinrich von Morungen:
Owê, −
Sol aber mir iemer mê
geliuhten dur die naht
noch wîzer danne ein snê
ir lîp vil wol geslaht?
Der trouc diu ougen mîn.
ich wânde, ez solde sîn
des liehten mânen schîn.
Dô tagete ez.
(Friedrich von Hausen, MF 143,22)
Aber auch Wortbedeutungen wie etwa von geslaht (hier: ‚geartet‘) oder die diversen „falschen Freunde“, wie z.B. dicke (‚oft‘), degen (‚Held‘), bœse (’schwach‘, ’schlecht‘), wîp (meist wertneutral für ‚Frau‘) müssten im Unterricht zumindest kurz thematisiert werden, damit sich die Schüler den Texten nähern können.
Miniatur Dietmars von Aist aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift
Dazu kommt die Notwendigkeit der Beschäftigung mit dem Sprachwandel. Wenigstens mit dem Lautwandel sollte sich auf basaler Ebene befasst werden, damit die Einheitlichkeiten der Sprache erkannt werden können.
Jedoch ist die Zeit in der Schule stets begrenzt und die gesamte deutschsprachige Literaturgeschichte soll innerhalb weniger Schuljahre erarbeitet werden. Das ist natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen, so dass eine starke Kanonisierung vorgenommen werden muss.
Für die mittelhochdeutsche Literatur bieten sich daher wohl vor allem kurze Texte an, etwa die Lyrik des Kürenbergers, Dietmars von Aist oder − meist weitaus schwieriger − Walthers von der Vogelweide. Doch sollte nicht nur die Minnelyrik, sondern besonders die Sangspruchdichtung, etwa des Spervogels behandelt werden, da sich hier gute Anschlüsse an Geistes- und mitunter auch Staatsgeschichte ergeben können. So kann im Unterrichtsgespräch nicht nur über die damaligen, sondern auch über die heutigen Gegebenheiten reflektiert werden.
Sinnvoll erscheint jedoch auch die Einbeziehung von Schwänken und anderer Kleinepik. Hier kann das gesellschaftlich vorgeprägte Bild des strengen, finsteren und christlichen Mittelalters hinterfragt werden. Dabei ist natürlich bei der Explizitheit der Texte auf das Alter der Schüler zu achten und von den priapeischen Mären sollte vielleicht eher abgesehen werden; das Opus des Strickers und der (spätmittelalterliche) Till Eulenspiegel bieten hier jedoch recht leicht verständliche Werke, die zudem auch Auszugsweise gelesen werden können.
Wenn es dann auch die Praxis untersagt, auf die wichtigen Großformen zurückzugreifen, wäre mit dem Einzug der kleineren literarischen Gattungen in den Oberstufenunterricht schon viel geholfen, das Literatur-, Kultur- und Sprachverständnis der heranwachsenden Generationen zu fördern.